Dr. Stefan Matysiak, Göttingen
Kommunikationswissenschaftler - Journalist
 
Zwischen Traditionsbildung und Traditionsverweigerung
Zu den Konstruktionsmechanismen von Zeitungstradition durch die Verlage

Am Beginn der Geschichte einer Zeitung, 
am Beginn ihrer Zeitungstradition, steht
kein fest stehendes historisches Datum, 
sondern die Verlage können die Geschichte 
ihrer Zeitungen weitgehend nach Bedarf
verlängern oder verkürzen. Denn Tradition
ist relativ.

(Die vollständige Fassung des Beitrags erschien im Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, Bd. 7/2005, S. 122-146) 

 
Zu den Marketinginteressen der Zeitungsverlage gehört der Aufbau einer möglichst langen Tradition ihrer Tageszeitungen. Anders als in anderen Wirtschaftsbranchen sind die dabei entstehenden Geschichtsschreibungen jedoch durch vielfältige Inkonsistenzen geprägt, indem unterschiedlichste Vorläuferblätter und Verlagstraditionen mehrdimensional in die Traditionslinien eingearbeitet werden. Fragt man in Rüsselsheim nach, wie alt die Opel-Fahrzeuge sind, ist die Antwort klar: Die Firma feierte im Jahr 1999 „100 Jahre Automobil“. Das Unternehmen käme wohl niemals auf die Idee, in seinen Selbstdarstellungen den Start der Opel-Fahrradproduktion (im Jahre 1886) als Beginn des Fahrzeugbaus zu begehen, obwohl Fahrräder als Wegbereiter des Autobaus gelten und obwohl früher auch die Vertriebswege beider Individualverkehrsmittel weitgehend identisch waren. Genausowenig werden die bei Opel ab 1862 produzierten Nähmaschinen in die Traditionslinie des Automobils gestellt, obwohl sie immerhin bereits über etwas ähnliches wie Gaspedale verfügten und die Übernahme solcher Bauteile sowie ihrer Fertigungstechniken ebenfalls durchaus zur Frühgeschichte des Autobaus gehören.

Überlegungen dieser Art, die für die Automobilwirtschaft bereits auf den ersten Blick absurd anmuten, sind bei der Traditionsbildung im Verlagsgeschäft jedoch die Regel: Während in den Firmengeschichtsschreibungen der Autobauer etwa klare Zäsuren zwischen den einzelnen technischen Entwicklungsstufen von Kutsche, Fahrrad bis Auto gemacht werden und zur Tradition des Autos nicht einmal die ersten mit Dampf betriebenen Kraftfahrzeuge (ab 1763) gezählt werden, bei denen es sich jedoch ebenfalls um Automobile handelte, haben Zeitungsverlage in der Regel ein breiteres Verständnis von der Tradition ihrer Zeitungen. Die unterschiedlichen Vorformen der heutigen Verlagsprodukte werden ebenso in die Zeitungsgeschichte eingeflochten wie die Entwicklung unterschiedlichster Vorläuferverlage. Eine großer Teil heutiger Zeitungshäuser führt auf diese Weise die Gründung ihrer Tageszeitungen auf das 18. Jahrhundert zurück (Tabelle 1).
 
Tabelle 1: Die Wurzeln der ältesten noch bestehenden deutschen Tageszeitungen
 
Heutige Tageszeitung
(beanspruchtes)
Geburtsjahr
Zeitungsname im Gründungsjahr
Hildesheimer Allgemeine Zeitung
1705
Hildesheimer Relations-Courier
Hanauer Anzeiger
1725
Wochentliche Hanauer Frag- und Anzeigungs-Nachrichten
Bremer Nachrichten
1743
Bremer Wöchentliche Nachrichten
Gießener Anzeiger
1750
Gießer Wochenblatt
Saarbrücker Zeitung
1761
Nassau-Saarbrückisches Wochen-Blatt
Schaumburger Zeitung (Rinteln)
1762
Rintelische Anzeigen von gelehrten und gemein-nützlichen Sachen
Hersfelder Zeitung (Bad Hersfeld)
1763
Intelligenz- und Zeitungs-Blatt von Hessen
Lippische Landeszeitung (Detmold)
1767
Lippische Intelligenzblätter vom Jahre 1767 nebst vermischten Abhandlungen
Wertheimer Zeitung
1772
Wertheimer wöchentlichen Anzeigen und Nachrichten zum Nutzen und Vergnügen des Publici
.
...
.
Älteste ostdeutsche Tageszeitungen
Volksstimme (Magdeburg)
1890
Volksstimme
Leipziger Volkszeitung
1894
Leipziger Volkszeitung
Berliner Zeitung
1945
Berliner Zeitung
Thüringische Landeszeitung (Weimar)
1945
Thüringische Landeszeitung
 
Allgemein findet eine lange Unternehmenstradition im Geschäftsverkehr eine werbewirksame Verwendung als Nachweis für große Erfahrung und langjährigen Erfolg sowie für Solidität, Seriosität und Sicherheit und dient damit als Absatzhilfe. Im Pressewesen steht eine lange Tradition stellvertretend für eine „von Generationen geschulte journalistische Technik“, so 1928 der Zeitungsforscher Otto Groth; die Tradition dient dabei als Beleg für eine hohe Verankerung der (zumeist lokalen) Zeitung in der Bevölkerung, bei der „fest gewurzelte Zeitungen Vertrauen und Autorität genießen“. Die Zeitung, fasste Groth den Wert der Tradition zusammen, wird dadurch zu einem besonderen Markenartikel mit hoher Kundenbindung, die den Verlegern eine höhere ökonomische Stabilität und einen Schutz vor konkurrierenden Neugründungen garantiert: „Zwischen Publikum und Zeitung tritt im tagtäglichen Verkehr eine Gewöhnung und Anpassung aneinander ein, so daß eine alte Zeitung schließlich eine starke Stetigkeit der ihrer Abnehmer und Inserenten und dadurch eine starke Sicherheit der Existenz gewinnt.“

Tradition als Qualitätsbeweis

Wie in anderen Wirtschaftszweigen wurde die Schaffung einer möglichst langen Tradition auch für die Verlage zu einem wichtigen Qualitätsnachweis und zum Mittel des Marketings. „Daher versäumt keine Zeitung, die auch nur auf eine einigermaßen stattliche Zahl von Lebensjahren zurückblicken kann, auf ihr Alter schon in ihrem „Kopf“ hinzuweisen, mit ihm als Zeichen des Ansehens und der Vertrauenswürdigkeit, des Einflusses und der Verbreitung Reklame zu machen“, erkannte Groth zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Tageszeitungen entwickelten sich in der Folge zu einem, so Madsack-Geschäftsführer Friedhelm Haak, „Mega-Markenartikel“,  weshalb auf der BDZV-Verlegertagung 2002 empfohlen wurde, das Ansehen dieser Marke breiter zu nutzen und auch auf andere Geschäftsbereiche auszuweiten. Hierzu können etwa Online-Portale, Ticketverkaufs- oder Reisebürodienste, Buchhandel oder Postdienstleistungen gehören. Ein Verlag, der durch seine Geschichte beweist, dass er bei gedruckten Medien seit 100, 150 oder 200 Jahren hohe Qualität geliefert hat, schafft auch für seine neuen Geschäftszweige eine Glaubwürdigkeit, über die andere Konkurrenten am Markt nicht verfügen.

Der Hinweis auf eine lange zurückliegende Gründung und beeindruckende Jahrgangsangaben beschwören zwar die langjährigen engen Verbindungen zwischen einer treuen Leserschaft und den alteingesessenen lokalen Zeitungen. Was jedoch am Anfang der von den Verlagen gefeierten langen Zeitungstraditionen steht, unterscheidet sich deutlich von heute bestehenden Tageszeitungen. So trugen die heute noch existierenden Blätter bei ihrer Geburt im 18. und 19. Jahrhundert zumeist gänzlich andere Namen (Tabelle 1). Die älteste heute noch erscheinende deutsche Zeitung, die 1705 gegründete „Hildesheimer Allgemeine Zeitung“, hieß anfangs „Hildesheimer Relations-Courier“ und erschien als „Hildesheimer Allgemeine Zeitung und Anzeigen“ erstmals 1854. Und auch als die zweitälteste noch bestehende Zeitung, der „Hanauer Anzeiger“, im Jahr 2000 seinen 275jährigen Geburtstag beging, blickten Verlag, Eigentümer und die Mitarbeiter zwar auf eine lange Laufzeit des Blattes zurück, feierten jedoch eigentlich alles andere als das Jubiläum des „Hanauer Anzeigers“, denn der Jubilar hatte als „Wochentliche Hanauer Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“ begonnen und seinen heutigen Namen erst 1872 bekommen. Betroffen von solchen Namensänderungen sind insbesondere jene gut hundert deutsche Zeitungen, die ihre Gründung auf die Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückführen (Abbildung 1).
 
Abbildung 1: Gründungsjahre noch bestehender deutscher Tageszeitungen.
Eigene Zusammenstellung nach Verlagsangaben/ZDB; Hauptausgaben/Nebenausgaben mit eigenem Titel/Nebentitel (N=714).
 
Hinter den seit dem erstmaligen Erscheinen immer wieder vorgenommenen Titeländerungen stehen nicht nur Formalia, sondern jeweils vollständig andere Produkte, die sich über den Namen hinaus vor allem auch im Erscheinungsbild und in den Inhalten weitestgehend von den heutigen Tageszeitungen unterscheiden. Nur im Ausnahmefall enthielten die frühen Zeitungen überhaupt eine nennenswerte Berichterstattung, weshalb etwa den heutigen „Hanauer Anzeiger“ mit dem Vorgängerblättchen aus dem 18. Jahrhundert kaum das Papier und die Druckerschwärze verbindet: „Layout, Inhalt und Adressatenkreis hatten mit der Tageszeitung, die heute in einer 275jährigen Tradition steht, noch absolut nichts gemein“, heißt es in der Verlagsgeschichte.

Zwei Ursprünge der Zeitungstradition

Die Menge der Gemeinsamkeiten zwischen den heutigen Zeitungen und ihren Vorgängern hängt ab vom Zeitungstyp, der jeweils am Anfang der Tradition stand. Auch wenn unter Tageszeitungen heute ein einziger Zeitungstyp verstanden wird, gehen die heute noch erscheinenden Zeitungen im Wesentlichen auf zwei verschiedene Formen mit jeweils unterschiedlichen Inhalten und Funktionen zurück.

Die ersten Druckschriften, die mit dem Begriff „Zeitung“ bezeichnet werden, waren ab Ende des 15. Jahrhunderts erschienen, wobei „Zeitung“ damals jedoch nichts anderes als ein Synonym für „Nachricht“ bedeutete. Diese Blätter erschienen jeweils als Einzeldrucke und berichteten teilweise polemisch und holzschnittartig über Naturkatastrophen, Kriegsereignisse und andere Sensationen oder befassten sich mit religiösen Streitfragen. Die ersten periodischen Blätter folgten ab dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, die sog. „Messrelationen“, bei denen es sich um durchschnittlich 100 Seiten starke Druckschriften handelte, die zumeist alle halbe Jahre gelegentlich der Frühjahrs- oder Herbstmessen vertrieben wurden und dementsprechend lediglich eine unaktuelle Auflistung von Nachrichten bieten konnten.

Ab Anfang des 17. Jahrhundert wurden sie durch „Relation“ oder „Aviso“ genannte Blätter verdrängt, aktuelle Periodika, die den heutigen Zeitungen schon näher kamen. Sie enthielten einen wahllose Abfolge von internationalen politischen Meldungen, Herrschaftsklatsch, Urkundenabschriften, Kriegsmeldungen, Wetterereignissen, jedoch nur vereinzelt lokale Nachrichten und ebenfalls nur begrenzt Inlandsmeldungen. Die Leser erfuhren so, dass der deutsche Kaiser seinem Generalfeldmarschall, Graf von Romanzow, ein goldenes Tabaksgefäß geschenkt hatte und der päpstliche Nuntius in Warschau an einer Feier teilnahm. Oder sie konnten lesen, dass die Franzosen 1.800 neue Rekruten bekommen hatten, die Österreicher ein Interesse an der Region La Spezia besaßen und gegen die Hauptstadt Korsikas eine Landblockade errichtet worden war. Die Informationen waren bei ihrem Abdruck nicht wie bei den Messrelationen mehrere Monate, sondern in der Mehrzahl nur noch zwischen zwei und vier Wochen, teilweise gar nur noch wenige Tage alt.In den Blättern wurden alle verfügbaren Nachrichten, die über das Postnetz eintrafen, kommentarlos in der Reihenfolge ihres Eingangs abgedruckt. Da diese Zeitungen politische Nachrichten druckten, unter den Augen der Landesherrschaft herausgegeben und von diesen mit Nachrichten versorgt wurden (so sie ihren Druck überhaupt genehmigte), kam es anfangs zu einer Selbstzensur und später einer herrschaftlichen Zensur, die vor allem die Auslandsberichterstattung weniger heikel als die aus dem Inland erscheinen ließ.

Auch wenn in Leipzig die „Wochentlichen Zeitungen“ bereits 1650 in „Einkommende Zeitungen“ umbenannt wurden und fortan sechsmal in der Woche erschienen, kamen die meisten dieser Periodika jedoch weiter lediglich einmal wöchentlich heraus. Diese Zeitungen werden wegen ihrer Berichterstattung und Periodizität bereits als direkte Vorformen der Tageszeitungen betrachtet. Zu diesem Zeitungstyp gehörte auch der „Hildesheimer Relations-Courier“ von 1705, Vorgänger der ältesten heute noch bestehenden deutschen Tageszeitung, der „Hildesheimer Allgemeinen Zeitung“, zudem die „Bremer Wöchentlichen Nachrichten“, Vorläuferin der „Bremer Nachrichten“.

Zumeist vom Anzeigenblatt zur Tageszeitung

Ein sehr großer Teil der heute noch bestehenden Tageszeitungen geht jedoch nicht auf diese Nachrichtenblätter mit politischer Berichterstattung zurück, sondern auf einen Pressetypus, bei dem weder die Berichterstattung über die Geschehnisse „draußen“ in der weiten Welt noch die Berichterstattung über lokale Ereignisse eine Rolle spielte, nämlich auf die ab den 1720er Jahren in einer Vielzahl entstandenen sog. Intelligenzblätter. Diese enthielten als Anzeigen- und Bekanntmachungszeitungen zumeist keine Nachrichten. Die darin abgedruckten Getreide- oder Brotpreise, Urteile der örtlichen Gerichte, Listen der durchgereisten Fremden, standesamtlichen Bekanntmachungen oder Immobilienanzeigen bildeten lediglich die Anfänge einer lokalen Informationsvermittlung. Mit ihnen entstand ein Pressetypus, der auch als Vorläufer der heutigen Anzeigenblätter verstanden werden kann. Im Verlauf ihrer Entwicklung wurde freier Platz zusehends mit „gelehrten Artikeln“ gefüllt, in denen das breite Publikum Tipps und Ratschläge für Haus- und Landwirtschaft sowie literarische Geschichten zur moralischen Unterweisung geboten bekam und die teilweise die Aufklärungsideen popularisierten. Diese meist durch ein staatlich garantiertes Monopol geschützten Zeitungen wurden in vielen deutschen Staaten für bestimmte öffentlich bestallte Personengruppen zu Pflichtblättern und zudem von der Obrigkeit mit Hilfe von Insertionszwängen gefördert. Wegen ihrer sicheren Einnahmen dienten die Anzeigenblätter oftmals zur Finanzierung karitativer Einrichtungen. Zwar wurde das Monopol auf Anzeigen im Verlauf des 19. Jahrhunderts aufgehoben, die Zeitungen behielten aber zumeist ihre offizielle Funktion für das kommunale Bekanntmachungswesen, indem sie den Städten und Kreisen als Amtsblätter dienten. 

Gerade bei Blättern, die nicht nur ohne Nachrichten auskamen, sondern sich auf Anzeigen, Bekanntmachungen oder Preisberichte beschränkten, war es ein weiter Weg von der wöchentlich bis zur täglich erscheinenden Zeitung, zu einem Blatt, das außer der Publikation von Inseraten auch die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ereignisse dokumentieren und kommentieren sollte. 

Eine vor allem lokale und regionale Berichterstattung nahmen diese Zeitungen erst mit der Lockerung der Zensur und den gewerberechtlichen Verbesserungen auf, die vor allem im Zuge der Revolution von 1848 sowie nach der Entstehung des Deutschen Reiches 1871 erfolgten. Mit der 1848er Revolution ging auch die Aufhebung der rechtlichen Trennung von politischen und Intelligenzblättern einher. Aus den überall verbreiteten Intelligenzblättern konnten sich die (heute die deutsche Presselandschaft prägenden) Lokalzeitungen mit ihrer umfassenden auch politischen Berichterstattung entwickeln. Auf diese Blätter gehen der heute noch bestehende „Hanauer Anzeiger“, die „Saarbrücker Zeitung“ oder die „Lippische Landeszeitung“ aus Detmold zurück. Insgesamt machten alle diese Zeitungen nach ihrem ersten Erscheinen unterschiedlich ausgeprägte Wandlungsprozesse durch. 

Mehrdimensionelle Traditionsbildung 

Wie weit und vor allem verschlungen der Weg von einem wöchentlichen Bekanntmachungsblatt zu einer modernen Lokalzeitung war, dokumentiert die Entwicklung der zweitältesten deutschen Zeitung, des als „Wochentliche Hanauer Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“ gegründeten „Hanauer Anzeigers“, die durch eine große Zahl von Kontinuitätsbrüchen gekennzeichnet ist. Eine die Zeitungsgeschichte überspannende durchgängige Traditionslinie ist bei diesem ursprünglich auf dem Intelligenzblatt beruhenden Zeitungstyp nicht feststellbar, erst die Bündelung der sich überlappenden und immer wieder unterbrochenen unterschiedlichen Traditionslinien ergibt auch hier die eigentliche Tradition, auf die beim Jubiläum Bezug genommen werden kann (Abbildung 2).
 
Abbildung 2: Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Zeitungstradition am Beispiel des „Hanauer Anzeigers“ (1725-2000)
 
Der Zeitungsname „Hanauer Anzeiger“ reicht (mit einer Unterbrechung durch ein nationalsozialistisches und anschließend amerikanisches Publikationsverbot von 1941 bis 1949) lediglich bis in das Jahr 1872 zurück (Abbildung 3). In den davor liegenden 150 Jahren trug die Zeitung insgesamt fünf unterschiedliche Namen und erschien etwa in der Franzosenzeit von 1811 bis 1813 als „Hanauer Departments-Blatt“ oder in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung als „Wochentliche Hanauer Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“ (dessen Namensbestandteile zudem ab und an vertauscht wurden).

Auch die Geschichte des Verlagshauses und ihrer Inhaber ist nicht durch eine durchgängige Traditionslinie, sondern durch drei gänzlich unterschiedliche Eigentümergruppen gekennzeichnet. Auf die erste Verlegerfamilie (bzw. deren Erben und Einheiratungen) folgte nach einem Vierteljahrhundert der Verlag des Evangelisch-Reformierten Waisenhauses in Hanau, dem das Verlagsrecht durch den Landgrafen von Hessen-Kassel als Einnahmequelle übertragen worden war. Die Verlagstradition der heutigen Eigentümerfamilie begann erst 1925 bzw. 1936.

Ähnliche gebrochene Kontinuitäten bestimmen beim „Hanauer Anzeiger“ auch die Tradition des Pressetyps. In die Kategorie „Tageszeitung“ kann das Blatt erst seit den 1870er Jahren gezählt werden. Vorher war die Zeitung ein Anzeigen- und Bekanntmachungsblatt. Den Übergang zur umfassend politisch berichtenden Tageszeitung vollzog der 1725 als Intelligenzblatt gegründete „Hanauer Anzeiger“ auf diese Weise erst rund 150 Jahre nach der Gründung, auch wenn zuvor bereits Informationen gedruckt wurden, die über reine Anzeigen und Bekanntmachungen hinaus gingen: Nachdem ab 1765 erstmals Preisberichte (Brot-, Fleisch- und Wurstpreise), seit den 1820er Jahren regelmäßig Polizeiberichte und Informationen für Haus und Garten sowie seit den 1840er Jahren vereinzelt auch Wirtschaftsbeiträge (Eröffnung von Bahnlinien etc.) erschienen waren, folgten in den 1860er Jahren Börsen- und Devisenkurse und ein Unterhaltungsteil. Die Anfänge der universellen und aktuellen Berichterstattung datieren auf das Jahr 1870, als am Schluss jeder Nummer auf immerhin einer halben Seite Kriegsberichte sowie andere lokale, nationale und internationale Meldungen zu finden waren. Ab 1873 rückte der mittlerweile erweiterte Textteil an den Anfang der Zeitung sowie der Anzeigen- und amtliche Teil nach hinten. „Die Ausgabe vom 1. Juli erlaubte erstmals den Vergleich mit einer heutigen Tageszeitung“, heißt es in der Verlagsgeschichte. Zu diesem Zeitpunkt war die Zeitung bereits knapp anderthalb Jahrhunderte alt.

Zehn Möglichkeiten der Traditionsbildung

Wie das Beispiel des „Hanauer Anzeigers“ besonders augenfällig zeigt, ist es bei Zeitungsjubiläen nicht ein durchgängig vorhandener Zeitungsname oder eine durchgängige Produkttradition, die jeweils den Hintergrund des Jubiläums bilden kann. Da die Produkttradition (eine Tageszeitung mit universeller und aktueller Berichterstattung) zumeist lediglich bis in die Mitte des 19. Jahrhundert zurückreicht und auch der Zeitungsname in der Regel jüngeren Datums ist, entsteht die Tradition ungeachtet aller zahlreichen historischen Wandlungen erst durch die Verknüpfung unterschiedlicher nebeneinander her laufender Entwicklungslinien, die erst zu einem Ganzen zusammengefügt werden müssen. Tageszeitungen werden dabei im übertragenen Sinne zu „Unternehmen“, die „über Titeländerungen und Zählungen hinweg als historisch gewachsene Einheit“ aufgefasst werden, so der Zeitungsforscher Wilbert Ubbens. Sie erhalten dabei ein organisches Eigenleben zugesprochen, dessen Lebensgeschichte durch „biografische“ Brüche eher reicher als unterbrochen wird.

Dieses von einer Vielzahl Kontinuitätsbrüchen geprägte Eigenleben der Tageszeitungen bildet den grundsätzlichen Unterschied der Traditionsbildung gegenüber anderen Wirtschaftsbereichen: Anders als etwa die Automobilproduzenten schaffen sich Verlage eine Art „Patchwork-Tradition“. Während Unternehmen aus anderen Branchen entweder das Alter eines Produktes oder das Alter des Unternehmens feiern, ist im Zeitungswesen eine Kombination aus vielen unterschiedlichen Kategorien (Tabelle 2) üblich, bei der Produkt und Erzeuger eins werden. Die Darstellungen der Entwicklungen einzelner Tageszeitungen erfolgen dabei nicht als durchgehende Traditionslinie, sondern als mehrdimensionaler Traditionszusammenhang, der es erlaubt, dass weitgehend alle evolutionären Entwicklungsschritte und Vorformen des Mediums „Tageszeitung“ zu einer einzigen Unternehmensgeschichte vereinigt werden können.
 
Tabelle 2: Tradition stiftende Merkmale für das Produkt „Tageszeitung“
Kategorien der Traditionsbildung bei Tageszeitungen
a
Marken- bzw. wettbewerbsrechtlich begründete Kontinuität
langjährige Verwendung eines rechtlich geschützten Zeitungsnamens (Titelrechte) 
b
Produkttradition
Tradition als Pressetyp „(lokale) Tageszeitung“
c
Dynastische Kontinuitäten
Tradition durch die Dauer des Familienbesitzes am Druck- und Verlagsunternehmen
d
Unternehmensrechtliche Kontinuitäten
Kontinuität durch eine Unternehmensnachfolge durch Kauf entsprechend der Handelsregister/ Handelsgerichtseinträge
e
Personelle Kontinuitäten
Übernahme (zentraler) Mitarbeiter einer Vorgänger­zeitung als verbindendes Element
f
Produktionsorttradition
Langjähriger Druckort als Element der Kontinuität 
g
Politische Tradition
Inhaltliche Bezugnahme auf frühere Zeitungen bzw. gemeinsame politische „Heimat“ als verbindendes Element
h
Formale Namenstradition
Neuverwendung eines langjährig ungenutzten „rechte­freien“ Zeitungstitels zur Erzeugung des Eindrucks von Kontinuität (Scheintradition)
i
Falsche Tradition
Völlig grundlose Behauptung einer Zeitungstradition aus Marketinggründen
j
Verwaltungsrechtliche Kontinuitäten
Staatliche Konzessionen, Privilegien oder Amtsblatt­status als Kontinuität schaffendes Element 

Aus den verschiedenen Darstellungen der Zeitungsgeschichte lassen sich zehn Kategorien destillieren, die in jeweils unterschiedlichen Kombinationen den bislang inhaltlich nicht systematisch analysierten Traditionsbegriff ausmachen können: Traditionsbildend wirken können so (a) markenrechtliche Kontinuitäten (indem ein rechtlich geschützter Zeitungsname über einen langen Zeitraum genutzt wird) oder (b) die Produkttradition (Dauer des Erscheinens als Zeitungstyp „Tageszeitung“). Die die Eigentumsverhältnisse betreffenden (c) dynastischen Kontinuitäten können sich nicht nur auf die typische Weitergabe von Familienunternehmen durch Erbgang und Einheirat beschränken, sondern erfolgten etwa beim Essener Verlag der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ als „byzantinische Dynastik“ (Financial Times Deutschland), bei der die bruchlose Unternehmensnachfolge durch eine Adoption sichergestellt wird: Erich Brost, einer der beiden Gründungseigentümer der WAZ, nahm so seinen Geschäftsführer Erich Schumann an Kindes statt an. Daneben bestehen die üblichen unternehmensrechtlichen Kontinuitäten (d), wenn Zeitungsverlage nicht im Rahmen eines Erbgangs den Inhaber wechseln, sondern die Rechtsnachfolge durch Kauf angetreten wird. Der 1862 gegründete Verlag des „Täglichen Anzeigers“ aus Holzminden übernahm so 1922 das „Holzmindener Kreisblatt“. Nur mit Hilfe dieser käuflichen Übernahme konnte der erst 1871 gegründete „Tägliche Anzeiger“ sein Gründungsdatum auf das Jahr 1777 zurückdatieren.

Auch personelle Kontinuitäten (e) können dazu führen, dass zwei aufeinanderfolgende Zeitungen in eine einzige Traditionslinie gestellt werden. So gelten etwa die beiden Nachkriegszeitungen „Osnabrücker Rundschau“ und „Neues Tageblatt“ trotz größter Unterschiede als Nachfolgeblätter. Die beiden Osnabrücker Zeitungen lösten zwar einander ab, außerdem waren das redaktionelle und technische Personal sowie die benutzten Produktionsanlagen dieselben, doch unterschieden sich die Zeitungen schon aufgrund formaler Kriterien wie Verlag und Herausgeber beträchtlich: Die „Rundschau“ war ein von der britischen Militärbehörde in Osnabrück herausgegebenes Nachrichtenblatt mit Propagandaauftrag, beim nachfolgenden „Tageblatt“ handelte es sich hingegen um die erste zivile deutsche Nachkriegszeitung der Stadt.

Die langjährige Nutzung derselben Druckstätte (f) kann ebenfalls der Schaffung von Tradition dienen. So führt sich die „Schaumburger Zeitung“ (Rinteln) auf das Jahr 1762 zurück, als erstmals ein Blättchen namens „Rintelsche Anzeigen“ erschien, das jedoch nach neun Jahren wieder ablebte. Die nächste Zeitung erschien zwar erst 16 Jahre später und hatte mit der ersten Zeitung weder den Namen, den Verlag noch den Drucker gemein. Als Basis der Zeitungstradition dient hier jedoch die traditionelle Adresse des Verlagsbüros, das 1762 wie heute in der Klosterstraße 33 residierte. Ebenfalls zur Bildung von Zeitungstraditionen werden (g) politische Wertvorstellungen herangezogen. 1990 entstand so in Rostock die „Mecklenburgische Volks-Zeitung“, die die Jahrgangszählung einer 1892 gegründeten namensgleichen Vorgängerin fortführte. Während die erste „Volks-Zeitung“ bis 1933 den Untertitel „Organ der Sozialdemokratischen Partei“ trug, gehörte die Wiedergründung des Jahres 1990 nicht der SPD und sollte auch „auf keinen Fall ein SPD-Blatt“ sein, wurzelte jedoch als „Stimme der neuen Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern“ (Untertitel) und als „linke Alternative“ im Wertekanon einer sozialen Demokratie.

Eine schwache Herstellung von Tradition ohne weitere Kontinuitäten erfolgt in den Fällen, wo lange nicht mehr genutzte Titel genommen werden, um gänzlich neuen Zeitungen eine gewisse Patina zu verleihen (h). So griffen nach der Wende 1989 einige neu gegründete ostdeutsche Lokalzeitungen auf die Namen alter Heimatblättchen zurück und schufen so eine Scheintradition, etwa der „Oranienburger Generalanzeiger“. Eine Scheintradition wird auch dort aufgebaut, wo (i) ein frühes Gründungsdatum lediglich fälschlich behauptet wird. Gerade, wenn zwischen Zeitungen eine Konkurrenzsituation herrscht, kann bei der Festlegung des Alters auch schon einmal auf nicht sachlich gerechtfertigte Weise nachgeholfen werden. Dies geschah etwa in Hildesheim, das durch die langjährige Konkurrenz zwischen der 1705 gegründeten „Hildesheimer Allgemeinen Zeitung“ und der frühestens 1757 entstandenen „Hildesheimschen Zeitung“ geprägt war. Letztere versuchte Anfang des 20. Jahrhunderts ihrer Konkurrenz den Status der ältesten Zeitung der Stadt streitig zu machen, indem sie die eigene Geburt substanzlos auf das Jahr 1698 vordatierte.

Eine entscheidende Traditionslinie dürfte von der jahrhundertelangen staatlichen Gängelung der Presse ausgehen, die die Zeitungen in den Augen der lokalen Bevölkerung ungeachtet anderer Brüche aus rechtlich-funktionalen Gründen (j) als „gewachsene Einheit“ erscheinen ließ. Von den gut dreieinhalb Jahrhunderten, die seit Erscheinen der ersten Zeitung 1605 in Straßburg vergangen sind, können lediglich der kurzer Wimpernschlag während der 1848er Revolution, eingeschränkt die 15 Jahre in der Weimarer Republik sowie die Zeit nach 1949 (bzw. 1989 in Ostdeutschland) als durch eine Pressefreiheit geprägt angesehen werden. In allen anderen Zeiträumen wurden nicht nur auf unterschiedliche Weisen die Inhalte zensiert, sondern durch Kautionsverpflichtungen, Konzessionszwänge, Gewährung von Gewerbeprivilegien oder durch besondere „Stempelsteuern“ die Verlagsgewerbefreiheit beschränkt und die Gründung von Zeitungen und Zeitschriften unterbunden. Die Vergabe besonderer Privilegien führte im 17. und 18. Jahrhundert dazu, dass die Herausgeber von politischen Zeitungen weitgehend vor Konkurrenz geschützt waren und teilweise nicht nur in einzelnen Städten, sondern in ganzen Ländern eine Monopolstellung inne hatten. Auch die Intelligenzblätter, aus denen sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts die heutigen Lokalzeitungen entwickeln sollten und die flächendeckend selbst in kleinen Städten erschienen, hatten in der Regel eine Monopolstellung inne, die anfangs in ihrer staatlichen Lizensierung, später in ihrer engen Anbindung an die Behörden (als amtliches Bekanntmachungsblatt) begründet war.

Das Privileg oder die Konzession zur Herausgabe der Zeitung war entziehbar und von einer auf eine andere Person oder ein Waisenhaus übertragbar. Wechselte hingegen nach einem Entzug und Neuvergabe der Lizenz der Rechteinhaber, so blieb doch die Zeitung als rechtliche Institution erhalten, was bis weit in das 19. Jahrhundert hinein der Traditionsbildung eine Grundlage verschaffte. Nach der Abschaffung der Lizenzpflicht sicherte der Amtsblattstatus den Zeitungen Einkommen und Beachtung des Publikums, häufig waren damit auch öffentliche Druckaufträge verbunden. Durch die amtlichen Anzeigen behielt die Zeitung als Ganzes ihren offiziösen Charakter, erkannte Groth: „Aber da […] ein Blatt allein im Kreis die amtlichen Anzeigen und Bekanntmachungen bekommt und so in engsten Beziehungen zu dem Landratsamte steht, so erhielt sich die Vorstellung im Publikum, daß dieses Verhältnis sich nicht auf den Inseratenteil beschränke.“

Möglichkeiten nicht immer genutzt

Alle unterschiedlichen, für die Bildung einer langen Zeitungstradition verwendbaren Kategorien (Tabelle 2) können von den Verlagen für die Geschichtsschreibung genutzt werden, sie müssen es jedoch nicht.

Ein deutlich früheres Gründungsdatum könnte so eigentlich die „Thüringische Landeszeitung“ begehen. Als die Zeitung nach dem 2. Weltkrieg im Herbst des Jahres 1945 startete, tat sie dies mit Unterstützung einer Anzahl weiterer thüringischer Traditionsverlage als gemeinsame Genossenschaft im alteingesessenen Weimarer Panse-Verlag. Auch der Name der „Thüringischen Landeszeitung“, die im Umfeld der Liberal-Demokratischen Partei gegründet wurde und später vollständig in deren Eigentum geriet, verweist auf einen Vorläufer aus dem Panse-Verlag, nämlich die 1849 gegründete und bis 1943 erschienene „Allgemeine Thüringische Landeszeitung Deutschland“. Da nach dem Zweiten Weltkrieg als Parteizeitung wiederauferstanden, entfiel 1945 aus dem alten Titel die politisch nun zu breit wirkende Bezeichnung „Allgemeine“, ebenso der Zusatz „Deutschland“. Noch 1946 und damit nach der Enteignung galt der Verlag der „Thüringischen Landeszeitung“ selbst bei den staatlichen Behörden weiter als „Panses Verlag“. Die heute noch bestehende „Thüringische Landeszeitung“ könnte (vgl. Tabelle 2: a, b, d, e, f) somit durchaus das Revolutionsjahr 1849 als ihr Gründungsdatum begehen.
Da die Traditionsbildung als Marketinginstrument dient, erscheint es den Verlagen sinnvoll, vor allem wenig vorzeigbare und nicht öffentlichkeitswirksame Traditionslinien wegzulassen. Es kann deshalb nicht überraschen, dass heute insbesondere die Berührungspunkte zur nationalsozialistischen oder SED-Geschichte wenig Verwendung in der Außendarstellung der Zeitungsunternehmen finden: Im Vergleich mit den üblichen Maßstäben der auf Patina sinnenden Verleger werden einige Zeitungen quasi jung gerechnet. Dies betrifft vor allem Zeitungen aus Ostdeutschland, etwa das 1945 gegründete das KPD-Blatt „Thüringer Volkszeitung“ und deren Nachfolger. Ab 1946 gehörte diese Zeitung bis 1990 unter dem Titel „Das Volk“ der SED. Nach der Wende löste sich die Zeitung von der SED, erlebte einen neuen Frühling und stellte ungeachtet der damals 45jährigen Geschichte den Jahrgangszähler wieder auf Null. Der Rechtsnachfolger der 1945 gegründeten „Thüringer Volkszeitung“ wurde dabei am 13. Januar 1990 in „Thüringer Allgemeine Zeitung“ umbenannt und später an die WAZ verkauft. Nähme der Verlag gleich anderen Zeitungshäusern bei der Festlegung der Jubiläumsdaten das breite Bündel unternehmensrechtlicher Verbindungen zur Vergangenheit als Maßstab der Traditionsbildung, hätte man 1999 den 75jährigen Geburtstag feiern können. Denn ganz am Beginn der verwickelten Verlagsgeschichte der „Thüringer Volkszeitung“/„Das Volk“/„Thüringer Allgemeine Zeitung“, im Jahr 1924, stand ein Parteiblättchen namens „Deutscher Aar“, das 1925 in „Der Nationalsozialist“ umbenannt wurde. Der NS-Verlag wurde nach dem Krieg enteignet und dem kommunistischen Verlag der „Thüringer Volkszeitung“ übergeben, eine Traditionslinie (vgl. Tabelle 2: d, f), die auch Eingang in das Handelsregister fand: Unternehmenszweck des 1945 registrierten KP-Verlags war danach die „Übernahme und Weiterführung des früheren NS-Verlags ‚Der Nationalsozialist‘ in Weimar, Goetheplatz, die Herausgabe von Zeitungen, Ankauf und Einrichtung von Druckereien zwecks Herstellung von Zeitungen aller erlaubten Parteien, die sich für den Aufbau eines neuen Deutschland einsetzen sowie Organisation und Herstellung von Drucksachen“.

Muss die Tradition „gesund“ sein?

Angesichts solcher dunkler Traditionslinien ist eine Verlagsgeschichtsschreibung, die das Jahr Null der Zeitungstradition in Umbruchjahren wie 1945/46 oder 1989/90 beginnen lässt, nicht überraschend: Da die Verlage ihren Geburtstag nach uneinheitlichen Kriterien selber aussuchen können, achten sie zumindest in der Außendarstellung darauf, dass das Unternehmen in der möglichst „gesunden“ Tradition eines politischen Neuanfangs wurzelt.

Dies geht um so besser, wenn ein adäquater Ersatz bereit steht. Die Magdeburger „Volksstimme“ führt etwa ihre Tradition auf das Jahr 1890 zurück, als die SPD eine Zeitung dieses Namens gründete. 1933 wurde die „Volksstimme“ geschlossen. 1947 erfolgte eine Wiedergründung durch die SED (vgl. Tabelle 2: a, g), nach der Wende wurde diese Zeitung dann an den Hamburger Bauer-Verlag verkauft (vgl. Tabelle 2: d).

Der Aufbau des SED-Organs „Volksstimme“ erfolgte nach dem 2. Weltkrieg jedoch nicht als Fortsetzung der ersten sozialdemokratischen „Volksstimme“, sondern buchstäblich auf den Trümmern der „Magdeburgischen Zeitung“ aus dem vor dem Krieg hoch renommierten Faber-Verlag. Der traditionsreiche Zeitungsname „Magdeburgische Zeitung“, der der „Volksstimme“ in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre durch Enteignung zufiel, wird heute als Lokaltitel genutzt. Die „Volksstimme“ nutzt jedoch nicht nur den traditionellen Zeitungsnamen, sondern residiert zudem weiter auch in den alten Verlagsgebäuden des Faber-Verlags (vgl. Tabelle 2: a, d, f). Würde der von Bauer übernommene „Volksstimme“-Verlag wie westdeutsche Verlage die Rechtsnachfolge des Zeitungsunternehmens (der „Magdeburgischen Zeitung“) zur Traditionsbildung nutzen, hätte man im Jahr 2001 das 375jährige Bestehen als mit Abstand älteste deutsche Zeitung feiern können. Auch hier gehen die Traditionsbrüche in der Verlagsgeschichte mit gesellschaftlichen Brüchen einher.

Angesichts der im deutschen Verlagswesen üblichen Traditionsbildung könnte eine Vielzahl ostdeutscher Zeitungsverlage gleichwohl nach einer Schamfrist dereinst dazu übergehen, die unterschiedlichen möglichen Traditionslinien zu nutzen und entsprechend der westdeutschem Verfahrensweisen das Gründungsjubiläum nach vorne zu verlegen. Die „Schweriner Volkszeitung“ (SVZ) ist so beispielsweise bereits fast flächendeckend dazu übergegangen, ihren lokalen Nebenausgaben jene Namen zu geben, die bereits für die örtlichen Tageszeitungen vor dem 2. Weltkrieg genutzt wurden (vgl. Tabelle 2: d oder h). Die Lokaltitel lauten etwa wie schon 1937 „Bützower Zeitung“, „Anzeiger für Sternberg, Warin, Brüel“, „Parchimer Zeitung“ oder „Ludwigsluster Tageblatt“. Insgesamt könnte bei einem Zugriff auf ältere Traditionslinien eine große Zahl von ostdeutschen Zeitungen schlagartig um mehrere Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte altern (Tabelle 3).
 
Tabelle 3: Zur Traditionsbildung verwendbare Wurzeln bestehender ostdeutscher Tageszeitungen (Beispiele)
Heutige Tageszeitung
mögliches Geburtsjahr
Zeitungsname im Gründungsjahr
Volksstimme/Ausg. Magdeburgische Zeitung
1626
Wochentliche Zeitungen
Schweriner Volkszeitung (SVZ)/Ausg. Mecklenburgische Zeitung (Schwerin)
1757
Schwerinsche Zeitung von den merkwürdigsten Staats-Geschichten
Ostthüringer Zeitung/Ausg. Geraer Zeitung
1795
Aufrichtig deutsche Volkszeitung
Freie Presse/Ausg. Zwickauer Zeitung
1802
Zwickauer Wochenblatt
SVZ/Ausg. Parchimer Zeitung
1818
Parchim’sche Zeitung
SVZ/Ausg. Bützower Zeitung
1839
Der Volksfreund
SVZ/Ausg. Anzeiger für Sternberg-Warin-Brüel
1848
Sternberg-Brüel-Wariner Anzeiger
Naumburger Tageblatt
1848
Naumburger Wochenblatt
Thüringische Landeszeitung (Weimar)
1849
Die Revolution
Märkische Allgemeine/Ausg. Potsdamer Tageszeitung
1850
Potsdamer Intelligenzblatt
SVZ/Ausg. Hagenower Kreisblatt
1864
Hagenower Kreisblatt
Mitteldeutsche Zeitung (Halle)
1865
Bote für das Saalthal
SVZ/Ausg. Gadebusch-Rehnaer Zeitung
1880
Gadebusch-Rehnaer Zeitung
Ostsee-Zeitung
1881
Rostocker Allgemeiner Anzeiger
Dresdner Neueste Nachrichten
1893
Neueste Nachrichten
Thüringer Allgemeine Zeitung (Erfurt)
1924
Deutscher Aar (Weimar) (Titel „Thüringer Allgemeine Zeitung“ in Erfurt seit 1849)
 
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Wie die maximal 60 Jahre alten ostdeutschen Zeitungen, die nach 1945 zumeist durch Enteignungen an deutlich ältere Titelrechte gelangten, sind durchaus auch bei vielen westdeutschen Verlagen Rückgriffe auf deutlich länger zurückliegende Gründungsdaten möglich. Viele in den 1940er Jahren gegründete Zeitungen übernahmen seit den 1950er Jahren durch Kauf oder Fusion bestehende ältere kleinere Konkurrenten, deren Traditionen ebenfalls nutzbar gemacht werden könnten.

Tradition als Vorteil nutzen

Wie die Beispiele zeigen, ist die Traditionsbildung bei Tageszeitungen in hohem Maße abhängig von individuellen Interessen der Verlage. Sie folgt kaum einer konsistenten wissenschaftlichen Kategorisierung.
Obwohl die Traditionsbildung nicht nach einheitlichen Kategorien erfolgt, ist den Zeitungen gemein, dass sie jeweils „eine Solidargemeinschaft mit den Lesern und ihren örtlichen Gemeinschaften“ bilden, so der Verleger Dirk Ippen. Die Leser identifizieren sich stark mit „ihrer“ traditionellen Zeitung und weisen ihr eine hohe Kompetenz zu. Der Markenartikel „Zeitung“ bietet somit grundsätzlich den Vorteil einer langjährigen Geschichte. Dieser Vorteil sollte nicht verschenkt werden.

Gerade angesichts der Beliebigkeit vieler schnell entstehender und ebenso schnell wieder verschwindender Firmen kann die lange Tradition eines Zeitungsverlags auch in dessen neuen Geschäftszweigen, angefangen vom Multimedia-Geschäft mit SMS-Diensten bis hin zum Ticketverkauf und Postdienst, als Beweis hoher Verlässlichkeit dienen. Eine öffentlichkeitswirksam präsentierte langjährige Unternehmenstradition schafft so Vertrauen bei den Kunden, vermittelt den Eindruck von Stabilität und setzt im unübersichtlichen Angebot der Konkurrenten Maßstäbe. Die Geschichte eines Verlags bietet folglich die Chance, als Mittel des Marketings genutzt zu werden – und das auch in den Geschäftszweigen jenseits der Zeitungsproduktion.

Nebenbei stärkt der offensive Umgang mit der Unternehmenstradition auch den Stolz und das Selbstbewusstsein der Mitarbeiter und damit deren Leistungsfähigkeit.

Ein Verlag kann somit auf ein Potenzial zurückgreifen, über das viele andere Unternehmen nicht verfügen. Dies gilt es zu nutzen.
 
 

 
 
 
 
Weitere Infos:

Stefan Matysiak: Aufsatz über die Schaffung von Zeitungstradition. Wie schaffen Verlage sich eine möglichst lange Geschichte? Stefan Matysiak arbeitet zur Pressegeschichte Besatzungsmedien
Auswahlbibliografie/ Zeitungstradition bzw. Pressetradition
 

Verlage sind in der Regel als privatwirtschaftliche
und kaufmännischen Grundsätzen unterliegen. Ihre Geldgeber erwarten von ihnen,
Unternehmen verfaßte Wirtschaftssubjekte,3 die elementaren betriebswirtschaftlichen
mit den zur Verfügung gestellten Ressourcen profitabel zu wirtschaften und durch
Kapital auch angemessen zu verzinsen.
ihre Arbeit nicht nur kulturelle Wirkungen zu erzeugen, sondern das eingesetzte
In der Realität zwingen also die kulturidealistische Sichtweise der Verleger
Verlag zu einer Gratwanderung zwischen Kultur und Profit. In der Regel finden die
auf der einen und die kaufmännischen Notwendigkeiten auf der anderen Seite den
Verleger zu einer gesunden ›Mischkalkulation‹,7 bei der gut verkäufliche ›Brottitel‹
stoßen und sich folglich schlechter absetzen lassen. Letztere veröffentlichen die
diejenigen Bücher kalkulatorisch mittragen, die auf weniger Publikumsinteresse
Kultur ihrer Gesellschaft einen Dienst zu erweisen – und schließlich nicht zuletzt
Verlage jedoch meist in dem (Sendungs-)Bewußtsein, mit diesen Publikationen der
auch. das Renommee ihres Hauses zu fördern. Dieses fragile Verhältnis zwischen
Kultur und Profit müssen die Verlage immer wieder neu definieren und justieren.
betriebswirtschaftliche Verluste, oder es zieht sich zugunsten des Kommerzes aus
Gerät es zu sehr aus der Balance, drohen dem Unternehmen entweder
dem kulturidealistischen Feld zurück.
historische Untersuchung eine Betrachtungsweise zu wählen ist, die sowohl den
Aus dem ›doppelten Charakter‹ der Verlage ergibt sich jedoch, daß für ihre
kulturellen Aspekten des Unternehmens Rechnung trägt als auch die betriebswirtschaftliche
Perspektive entspräche die Verlagsgeschichtsschreibung auch dem ›doppelten
Seite des Büchermachens angemessen berücksichtigt.10 Mit einer solchen
Charakter‹ des Buches, das sich als Ware von den meisten anderen massenhaft
produzierten Konsumgütern unterscheidet: Neben der äußeren, dinglichen Dimension
auf.11 als (Gebrauchs-)Ware weist es zusätzlich eine innere, inhaltliche als Kulturträger

Matysiak, Stefan: .  Warum Verlagsgeschichtsschreibung? Verlagsgeschichte als Kapital für die Zukunft Gerade bei Engagements im Bereich neuer Medien oder anderer noch junger Geschäftsfelder können Verlage ihre langjährige Unternehmensgeschichte ideal als Kapital für ihre Zukunft nutzen.  Für Verlage gelten dabei die gleichen Gesetze wie für andere Unternehmen: Eine möglichst lange Unternehmenstradition dient im Geschäftsverkehr als werbewirksamer Nachweis großer Erfahrung und langjährigen Erfolgs. Den Kunden gilt eine lange Unternehmensgeschichte als Nachweis für Solidität, Seriosität und Sicherheit. Speziell im Pressewesen steht eine lange Tradition stellvertretend für eine "von Generationen geschulte journalistische Technik", beschrieb bereits 1928 der Zeitungsforscher Otto Groth. Auch die heutigen Leser wissen: Ein Verlag mit langer Geschichte arbeitet traditionellerweise seriös und solide. Ein Verlag, der durch seine langjährige Geschichte beweist, dass er bei gedruckten Medien seit 100, 150 oder 200 Jahren hohe Qualität geliefert hat, schafft auch für seine neuen Geschäftszweige eine Glaubwürdigkeit, über die andere Konkurrenten am Markt nicht verfügen.  Markenartikel haben Geschichte Seit langem gelten Tageszeitungen deshalb als ein "Mega-Markenartikel", so der Geschäftsführer der Verlagsgesellschaft Madsack, Friedhelm Haak. Um dieses Potenzial stärker zu nutzen, wurde auf der BDZV-Verlegertagung 2002 empfohlen, das Ansehen dieser Marke auch auf andere Geschäftsbereiche auszuweiten. Hierzu gehören etwa Online-Portale, SMS-Serviceleistungen, Ticketverkaufs- oder Reisebürodienste, Buchhandel oder Postdienstleistungen. Der Vorteil des historisch gewachsenen Markenartikels 'Zeitung' sollte nicht verschenkt werden.  Zeichen der Verlässlichkeit auch in neuen Geschäftszweigen Gerade angesichts der Beliebigkeit vieler schnell entstehender und ebenso schnell wieder verschwindender Firmen kann die lange Tradition eines Zeitungsverlags auch in dessen neuen Geschäftszweigen als Beweis hoher Verlässlichkeit dienen. Eine öffentlichkeitswirksam präsentierte langjährige Unternehmenstradition schafft so Vertrauen bei den Kunden, vermittelt den Eindruck von Stabilität und setzt im unübersichtlichen Angebot der Konkurrenten Maßstäbe.  Die Geschichte eines Verlags bietet folglich die Chance, als Mittel des Marketings genutzt zu werden - und das auch in Geschäftszweigen jenseits der Zeitungsproduktion. Ein Verlag kann somit auf ein Potenzial zurückgreifen, über das viele andere Unternehmen nicht verfügen. Und der offensive Umgang mit der Unternehmenstradition stärkt nebenbei auch den Stolz und das Selbstbewusstsein der Mitarbeiter und damit deren Leistungsfähigkeit. Ihr Unternehmen kann über mehr Tradition verfügen, als Sie denken Die Traditionsbildung eines Zeitungsunternehmens folgt Gesetzen, bei denen auch vielfältige Traditionsbrüche keine Rolle spielen. Denn auch die sehr alten und traditionsreichen deutschen Tageszeitungen hatten bei ihrer Gründung zumeist andere Namen als heute, andere Eigentümer als heute und einen Inhalt, der mit den heutigen Tageszeitungen nicht viel zu tun hat. Auch die Tradition der sehr alten deutschen Zeitungen ist lediglich nach besonderen Regeln konstruiert.  Trotzdem haben auch Zeitungen, bei denen zwischen dem Heute und dem Gestern kein Zusammenhang besteht, eine lange Tradition. Solche Tradition ist konstruierbar. Auf diese Weise lässt sich auch bei Ihnen eine eventuell bestehende nur kurze Zeitungstradition möglicherweise zum Nutzen Ihres Verlages verlängern.   Matysiak, Stefan Matysiak[Besucherzähler]